NN Feuilleton vom 8.11.93 (...) Was Anarchie in Bayern bedeutet, bekommen auch die Huren zu spüren. Mit Rainer Werner Fassbinders respektloser "Anarchie in Bayern" bekommen die Zuschauer (...) eine sogar irrwitzig-hinterfotzige Produktion zu sehen. Einfachste theatralische Effekte im besten Sinn bedient dafür Hans
Hirschmüller in seiner (nach dem erfolgreichen "Katzelmacher")
zweiten Fassbinder-Arbeit.
Slapstickhaft Hirschmüller hat sich eine bisweilen slapstickhafte Choreografie ausgedacht und im fliegenden Kostümwechsel bekommt der Fassbinder-Text eine frisch-freche Bodenlosigkeit, die im absoluten Rollen- und Identitätswechsel gipfelt: Die eigentlichen Opfer von Anarchie und Gleichmacherei sind die Nutten, die in Nürnberg freilich, höchst ordinär ausstaffiert, von Männern gespielt werden. Die Frauen als rettende GIs beweisen Macho-Mut. Ein paar Stühle, ein paar Fummel, Licht und Rock für die Aufbruchstimmung: Mehr brauchen Maja-Maria Ludwig, Marion Plieth, Marion Schweizer, Esther Weisert, Michael Althauser, Fridolin Eppe, Matthias Fischer, Stefan Lehnberg und Özdemir Oztürk nicht, um Fassbinders böse Fiktion von einem anderen Staat, von dem Mut zum freien Leben, der Bereitschaft zur Gewalt und schließlich der grellen Niederschlagung aller Visisonen zu erzählen. BERND NOACK NZ vom 08.11.93 Das Scheitern einer Revolution, die nicht Rücksicht auf die Werte und das Bewußtsein der Bevölkerung nimmt, ist Thema bei Rainer Werner Fassbinders "Anarchie in Bayern", einer losen Szenenfolge, parodistisch antipsychologisch, angelegt zwischen Lehr- und Lachstück: ein Volksstück im umgekehrten Sinn. Hans Hirschmüller, der 1969 bei der Münchner Uraufführung
selbst mitspielte, hat "Anarchie in Bayern" mit einigen überzeugenden
Regieeinfällen als unterhaltende und flotte Revolutions-Revue inszeniert,
nicht ohne nostalgischen Rückblick auf eine Zeit, als der Gegner
noch "rot" war und Franz Josef Strauß gegen "kommunistische
Subjekte" wetterte. Die Revolution als Programmwechsel des Bayerischen
Rundfunks, die lakonisch knappen und fehlschlagenden Versuche einer entsetzten
Familie, sich den Begriff "Anarchie" zu erklären, gelingen
köstlich komisch. Das Ensemble besticht durch Spielfreude und Schlagfertigkeit.
Ein Garant für die Gunst des Publikums ist hingegen Hans Hirschmüllers Fassbinder-Produktion "Anarchie in Bayern", die reichlich Gelegenheit bietet zum Erhabenfühlen über die Spießer auf der Bühne. An deren Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit scheitert die "Revoluzzer-Bürokratie"‹ nicht zuletzt, weil ihr die Abschaffung von Geld und dem sakrosankten Privateigentum Auto vorschwebt. Der Hauptwitz der von Hirschmüller komplettierten Satire aus dem Jahr 1969 ist dem komödiantisch virtuosen Ensemble zu verdanken, das den Wechsel von der biederen Wohnstube zur Rocky Horror Picture Show zweier männlicher Huren mühelos meistert.
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